Geschichten aus dem Asker Land

Dorntrauds Brautkleid
In den Tagen des Freiherrn Tranbert von Ask zu Norburg, lebte im Weiler Papelbissen eine alte Frau, deren Lebensunterhalt aus einer kleinen Nähstube bestand. Wann immer es etwas zu flicken gab oder zu ändern, dessen sich die Frauen in den umliegenden Höfen nicht bemühen mochten, so war die alte Ulganja – von den meisten liebevoll "Mutter Ulga" geheißen – die geeignete Hilfe. Auch neue Stücke fertigte Mutter Ulga für eine Handvoll Groschen gerne an, und nie hörte jemand die alte Frau klagen, obwohl sie stets kaum genug Geld für Essen übrig behielt.
Von dem Wenigen, was ihr die mühsame Arbeit – und mühsam war die Arbeit für ihre alten Hände und die müden Augen – einbrachte, gab sie das meiste aus, um ihre einzige Tochter zu versorgen, die sie von ganzem Herzen liebte.
Ihre Tochter Dorntraud nun war ein hübsches Mädchen von großer Güte und Herzenswärme, ein Kind, wie es sich wohl jede Mutter nur wünschen würde. Wohl ein jeder im Weiler hatte sich insgeheim schon gefragt, wer wohl der stolze Vater Dorntrauds sein mochte, doch kein einziger hätte eine Antwort gewußt. Die alte Ulganja war eines Tages in Papelbissen erschienen, mit dürftigen Mitteln, die gerade zum Erwerb der kleinen Kate reichten, die sie nun schon so viele Jahre bewohnte. Damals schon hatte sie ihre Tochter mit sich getragen – ein winziges Würmchen in Decken und zerfressene Karenfelle gehüllt.
Die Bewohner Nordseweriens pflegen ein wortkarger Menschenschlag zu sein, und jedermanns Privatangelegenheiten werden als seine eigene Sache betrachtet und respektiert. Als sich also herausstellte, daß die Neue' nicht von selbst über ihre Vergangenheit zu sprechen gedachte, ließen die Papelbissener trotz ihrer Neugier die Sache auf sich beruhen. Jahre später Mutter Ulga eine ebensolche Selbstverständlichkeit für die Dörfler, wie ihre schöne Tochter Dorntraud, und niemand wäre noch auf den Gedanken gekommen, die Vergangenheit wieder aufzurühren.
Mutter Olga wurde jedoch keinesfalls jünger, und mit zunehmendem Alter begann ihr schwindendes Augenlicht, ihre Arbeit zusehends unmöglich zu machen. Dorntraud mühte sich nach Kräften, ihrer Mutter zur Hand zu gehen, doch für das Nähen, das Sticken und Klöppeln besaß sie beim besten Willen kein Talent. Ihre Arbeiten waren ordentlich, aber keinesfalls herausragend genug, um den Bauersfrauen der Umgebung Grund zu geben, ihre Näharbeiten nicht selbst zu erledigen. So wurde das Auskommen von Mutter und Tochter bald von tag zu Tag schwieriger, und selbst ein hier und da zugesteckter Laib Brot oder das eine oder andere Stück aus der Schlachtung, das die Bauern der armen Ulga zukommen ließen, konnten die Not nur unwesentlich lindern.
Schließlich nahte sich der Winter des Jahres 794 BF, und die Kälte begann unerbittlich ihren Einzug in die Hütten im Sewerischen zu halten – für Mutter Ulga und Dorntraud, die ihren Herd nur noch mit dürren Reisern aus dem leergesuchten Wald nähren konnten, eine fürwahr unerträgliche Situation.
In dieser Zeit größter Not schickte der Dorfschulze von Papelbissen einen Knaben gegen Burg Ask, um den Vogt des Freiherrn um jene Hilfe für die arme Mutter Ulga zu erbitten, die ihr die Bewohner des Ortes ob ihrer eigenen Armut nicht gewähren konnten.
Der Vogt, ein alternder Verweser aus dem Märkischen, der als Kaufmann zu Jugendzeiten kein Glück gehabt hatte, war ein hartherziger Mensch ohne jedes Mitgefühl. So wies er nicht nur den Knaben schroff ab, sondern ließ gleich noch übermitteln, daß auch Kopfsteuer und Schongeld nicht eingetrieben und längst fällig seien. Diese niederschmetternde Botschaft suchte der gute Dorfschulze zunächst vor Mutter Ulga geheimzuhalten, doch gelangte das Wort des Vogtes dennoch an der alten Frau Ohren. Man kann sich die Verzweiflung von Ulganja vorstellen, als sie erfuhr, daß der Vogt beabsichtigte, ihre Armut noch durch Forderungen zu verschlimmrn, die sie gewißlich nicht würde erfüllen können.
Am folgenden Tag hüllte sich Ulganja in ihen zerlumpten Mantel und machte sich in aller Frühe auf den Weg zur Burg Ask, wohl wissend, daß sie für den Weg nahezu einen halben Tag benötigen würde. Unter dem Arm trug sie ein Bündel, sorgsam in eine Decke gehüllt, das sie fest an sich preßte, als einige Dörfler sie auf dem Weg aus dem Weiler beobachteten.
Bei leichtem Regen erreichte Ulganja um die Mittagsstunde das Dorf Ask, von wo aus sich die schlammige Straße zur rund zwei Meilen entfernten Burg derer von Ask schlängelte. Dort angekommen bat sie darum, den Vogt sprechen zu dürfen, der die Papelbissenerin auch empfing. Wohl um des Vogtes Unbarmherzigkeit wissend, suchte Ulganja gar nicht erst, die zu zahlende Summe erlassen zu bekommen; vielmehr bat sie den Verweser lediglich um Stundung bis zum kommenden Frühjahr. Dann, mit besseren Lichtverhältnissen, hoffe sie wieder einige Bekleidungsstücke fertigen zu können, um mit dem Erlös die Schuld an den Freiherrn zu bezahlen. Der Vogt aber entgegnete voller Kälte, daß sie bis dahin gut und gerne durch Borons Wirken ihren Verpflichtungen entronnen sein könne, und er verlangte die sofortige Begleichung der Schuld.
Derart abgewiesen, entrollte die alte Frau das Bündel, welches sie bis dahin sorgsam gehütet hatte und entnahm ihm ein Brautgewand von wundervoller Pracht; unter Tränen erklärte sie dem Vogt, sie habe doch kein ander Ding, doch dies Brautgewand habe sie in monatelanger Arbeit gefertigt, aus den besten Stoffen, derer sie habe habhaft werden können. Sie habe es schon vor Jahren – mit besserem Augenlicht – gefertigt, und es sei für ihre Tochter gedacht, die sich in heiratsfähigem Alter befinde. Der Vogt möge doch dieses letzte Gut, was ihr verblieben sei, als Ersatz für klingende Münze akzeptieren. Derartige Worte endlich vermochten an des Verwesers Herz zu rühren: Er wolle es zufrieden sein; das Gewand als Zahlung wolle er wohl annehmen, und Ulganja könne es im Frühjahr sogar wieder auslösen, wenn sie dann die Abgaben anderweitig aufbringen könne. Überglücklich über das Einsehen des Vogtes übergab die arme Frau ihm das Bündel, obgleich sie sich nur schweren Herzens von diesem Stück trennen mochte. Dann kehrte sie auf dem beschwerlichen Wege nach Papelbissen zurück, wo die besorgte Tochter sie schon erwartete. Ulganja aber verriet nichts über das Kleid, das eine Überraschung für Dorntraud hatte sein sollen, falls sie sich hätte vermählen wollen. Sie verkündete lediglich, der Vogt habe zugestimmt, ihr die Steuer bis zum Frühjahr zu stunden.
Auf Burg Ask indessen hatte der Vogt nach Mutter Ulgas Fortgehen das Gewand zunächst näher in Augenschein genommen und eine nicht geringe Überraschung erlebt: Das Kleid entpuppte sich als ein wahres Prunkstück der Schneiderkunst. Beste Stoffe, kunstvoll verarbeitet und mit reichhaltigen Stickereien versehen, verziert mit Borten und Spitzen – das Gewand einer Prinzessin!
Beeindruckt begab sich der Vogt mit dem Brautkleid zum Freiherrn Tranbert, der ebenso erstaunt reagierte, wie sein Beauftragter zuvor. Am meisten Überraschung zeigte jedoch der wohlgeborene Dalberdin von Ask, ältester Sohn des Freiherrn.
Wie schön muß eine Frau sein, die ein solches Kunstwerk von liebender Hand gefertigt bekommt", sprach Dalberdin zu seinem Vater, "nur bedauerlich, daß sie nicht vom Stande ist." Dennoch beschloß der junge Adelige, auf eigene Faust einmal nachzuforschen, wer denn die mystriöse Tochter der Alten aus Papelbissen sei. So machte er sich am nächsten Morgen während seines Ausritts auf den Weg zu dem Weiler, um die Kate von Mutter Ulga aufzusuchen. Wohl um die Lage der Frau wissend, hatte er ein paar seiner Kleider mitgebracht, die einiger leichter Ausbesserungsarbeiten bedurften.
Der Alten stellte sich Dalberdin als reisender Junker vor, der für einige Zeit im Dorf Ask weile, wo ihm ihre Dienste empfohlen worden seien. Als er die Summe vernahm, die Mutter Ulga für ihre Näharbeiten erbat, begann er laut zu lachen und behauptete, einen solchen Freundschaftspreis solle sie den armen Bürgern machen – er aber sei bereit, ebensoviel zu bezahlen, wie man in Norburg oder gar Festum von ihm verlangen würde. Mit diesen Worten überreichte er einen gut gefüllten Beutel und verließ die Hütte, in der eine verdutzte Ulganja ungläubig auf eine Hand voller Silbermünzen blickte.
Als er einige Tage darauf zurückkehrte, um die geflickten Kleidungsstücke abzuholen, gelang es ihm erstmals, einen Blick auf Dorntraud zu erhaschen, die eben mit einigen Lebensmitteln heimkehrte, und vom ersten Moment an entbrannte sein Herz in tiefer Liebe zu dieser guten und schönen Frau.
Dorntraud indessen empfand größte Bewunderung für den ansehnlichen Junker, zumal auch Dankbarkeit, da er ihre Mutter für die Näharbeiten so großzügig entlohnt hatte. Daher suchte sie bewußt seine Nähe und fragte ihn allerlei, wobei sie dem Gespräch entnehmen konnte, daß er längere Zeit in der Gegend zu tun habe. So drückte sie in aller Unschuld und Keuschheit ihre Bewunderung aus und signalisierte, daß sie einem Wiedersehen nicht abgeneigt sei, als er Entsprechendes andeutete.
Über den Winter begannen sich die Besuche Dalberdins bei Dorntraud zu häufen, und stets hatte er Arbeit für ihre Mutter, oder er brachte kleine Geschenke, so daß bald die alte Ulganja anzudeuten begann, er möge um des guten Rufs ihrer Tochter willen entweder sich ein Herz fassen und einen Antrag machen – denn sie hatte ja sehr wohl bemerkt, daß er nur Dorntrauds wegen in die armselige Hütte kam – oder aber er müsse doch endgültigen Abschied nehmen, was sie selbst sehr bedauern würde, um ihrer Tochter und auch um seiner selbst willen. Derart durchschaut, bekannte Dalberdin zunächst Dorntraud seine Liebe, und am gleichen Tage noch bat er die Mutter um der Tochter Hand.
Diese muß es sein und keine andere!" – So wenig schonend brachte er seinem Vater bei, daß er sich mit einer Bürgerlichen zu vermählen gedachte. Den sewerischen Dickkopf seines Sohnes wohl kennend, gab der Freiherr nach kurzem Disput seinen Segen zu der geplanten Verbindung, und alsbald wurden die Festivitäten vorbereitet. Zu diesem Zweck erschienen Mutter Ulga und ihre Tochter auf Burg Ask – diesmal, um das Vermählungsgewand mit dem durch Dalberdins Aufträge verdienten Geld einzulösen. Bei dieser Gelegenheit – das Gewand erhielten die beiden natürlich ohne Schuldzahlungen zurück – traf der Freiherr selbst zum ersten Mal auf Ulganja; voller Verwunderung stellte er fest, daß die Alte sich des besten höfischen Sprachgebrauchs befleißigen konnte und auch keinerlei Unsicherheit im Umgang mit Vogt oder seiner eigenen Person erkennen ließ.
Dorntraud erschien dem Freiherrn scheuer, doch auch sie benutzte bestes Sewerisch, und ihre Manieren erwiesen sich als tadellos. So war der Herr von Ask angenehm überrascht und schon eher bereit, die Wahl seines Sohnes mehr als nur zu billigen. Schon wurden die notwendigen Vorbereitungen getroffen, um die Vermählung zu vollziehen. Trotz der nicht standesgemäßen Umstände ließ der Freiherr eine stattliche Zahl sewerischer Adeliger zu der Feier laden. Unter diesen nun befand sich auch der Baron von Dornobruck, einer Landschaft nahe Walserwacht. Er war ein alter Bekannter des Herrn von Ask und hatte die lange Reise trotz seines hohen Alters, welches man ihm allerdings nicht ansah, angetreten, um bei solcher Gelegenheit dem Freund seine Aufwartung zu machen. Als nun der Baron der Braut ansichtig wurde, da war er sofort von ihrer Anmut ergriffen und bestand darauf, Dorntraud als Brautführer zum Traviaschrein geleiten zu dürfen.
Als aber der große Tag gekommen und der Baron mit Dorntraud auf dem Weg zum Schrein war, um sie dem Sohn des Freundes zuzuführen, da bemerkten nicht wenige der Anwesenden die frappierende Ähnlichkeit zwischen Baron und Braut. Zunächst jedoch wurde jener Tatsache keinerlei Bedeutung beigemessen – viel zu sehr waren alle von der Braut in ihrem zauberhaften Gewand angetan, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie eine echte Edle," konnte man hier und da verhaltene Stimmen vernehmen.
Schließlich hatte der Baron Dorntraud zu ihrem zukünftigen Gemahl geführt und wandte sich wieder den Gästen zu, da erblickte er unter ihnen die Brautmutter, die alte Ulganja, die sich bis zu jenem Augenblick stets fern von ihm gehalten hatte. Kaum aber hatte er die Mutter erspäht, als er ungläubigen Blickes und mit unsicheren Schritten auf sie zutrat. Ulganja erwiderte seinen Blick standhaft und voller Stolz. Die Geweihte verhielt indes in ihren Begrüßungsworten, denn alle Augen richteten sich auf Baron und Brautmutter. Eine kleine Ewigkeit herrschte gespannte Stille. Dann aber hörte man den Baron die bedeutungsschwangeren Worte flüstern: Ulganja – teuerste Freiin!" Sofort erfüllte ungläubiges Gemurmel den Schrein. Erklärend richtete der Baron, der die Hand von Ulganja ergriffen hatte, sein Wort an den verdutzten Gastgeber und die Versammelten:
Diese Edle ist die Freiin Ulganja von Garbelweiler, welche meine Braut war, doch die ich ob ihrer Armut letztendlich verschmähte – der schlimmste Fehler, den ich je begangen – bin ich doch bis zum Tode meiner unseligen Gemahlin meines Lebens nicht froh geworden!"
Und jene dort, die Ihr zum Altar geführt, ist Euer eigen Fleisch und Blut, das Kind unserer Liebe, Baron", entgegnete Ulganja, auf Dorntraud deutend.
Mein eigen Fleisch und Blut – und Ihr habt niemals Euer Wort an mich gerichtet – trotz aller Armut. So wart Ihr doch zu keiner Zeit an meinem Vermögen interessiert?" fragte der erstaunte Baron von Dornobruck.
Nein, Baron, meine Liebe war vorbehaltlos", kam die schlichte Antwort.
Verzeihen erheischend wollte der Baron vor der Freiin auf die Knie sinken, doch Ulganja hinderte ihn:
Laßt uns Vergangenes später bereden. Nun laßt erst unser gemeinsames Kind jenes Glück erlangen, das uns verwehrt blieb. Gesellt Euch zu mir."
Dankbar nahm der Baron den Platz neben der Freiin ein, und das Getuschel verstummte bei den Worten der Geweihten, die in der Zeremonie fortfuhr. So erlangte Dalberdin von Ask zu Norburg die Freiin Dorntraud von Garbelweiler zur Braut, sehr zur Genugtuung seines Vaters. Der Baron von Dornobruck aber, der ja verwitwet war, machte noch im hohen Alter Frau Ulganja zu seiner Gemahlin, die dem Geliebten großmütig verziehen hatte, was er ihr in jugendlicher Unwissenheit angetan.